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Eine lichtdurchflutete, farbenfrohe Zeit  brachte uns der grüne Juni des Jahres 1997, als Sarah Kirsch vom Norden her ins sanfte Hügelland des Vorharzes kam. Diese Tage waren so heiter wie die Stimmung der Aquarelle, die die Dichterin für eine Ausstellung in Nordhausen mitgebracht hatte. Wir besuchten anmutige Taufengel in den Dorfkirchen, die, über uns schwebend, lächelten. Für den Engel, der nach seiner Restaurierung zurückkommen sollte am 6. Junitag, an dem Sarah Kirsch in seiner Limlingeröder Kirche lesen würde, pflückten wir vor allem Lupinen und Margaritten, die mit ihren Formen und Farben den sommerfrohen Strauß bildeten. An einem dieser "hitzebrütigen" Tage schritten wir aus Limlingerode hinaus über die kräftig rot gefärbte Erde dorthin, wo der Pfad, immer üppiger mit Sträuchern und Bäumen bewachsen, zum dichten Weg wird. Ein Dichterweg wurde geboren!

Am 16. April 1935 kam im oberen Stockwerk des geräumigen Pfarrhauses von Limlingerode Ingrid Hella Irmelinde Bernstein zur Welt, in dem Raum, vor dem die alte Linde steht. 62 Jahre später sitzt sie, in der Zwischenzeit als Sarah Kirsch eine anerkannte Dichtern geworden auf der moosbewachsenen steinernen Treppe vor dem verfallenen Pfarrhaus. Sie ist zurückgekehrt an die Stätten früher Kindheit. Auf unseren gemeinsamen Wegen dieser "hitzebrütigen" Tage werden von ihr zwei Worte besonders oft zu hören sein: "schön" und "grauenhaft".

Auf diesem "Sonntagsspaziergang 1997" kam Sarah Kirsch noch nicht bis dahin, wo man die Grenze gezogen hatte, die unüberwindbare Grenze, die gefährliche Grenze, die Grenze, die das Land zerrissen hatte -, das war am nächsten Tag. Auch an diesem war der Himmel blau über das Land gebreitet, sehr weiße Wolken steigerten sein Leuchten. Wir schritten am ersten See, in den die Sete fließt, entlang und bewunderten die Spiegelungen.

Vogelgesang und Schmetterlinge waren unsere Begleiter. Auf Grasmoospolstern kamen wir an den zweiten See. An seinen Ufern entlang führte ein Lupinen-Pfad zu einer Kreuzung. Dort wandt sich Stacheldraht zu einer Acht und wies uns den Weg leicht bergan an einem Erdfallsee vorbei. Die hohen Bäume, Buchen und Fichten zumeist, rauschten und knarrten. Dann war da plötzlich der bepflasterte Teil des ehemaligen Grenzbereiches. In langen Wellen zieht die Betonpiste davon. Die Limlingeröder erzählen noch von den Verletzungen, die auch die Landschaft durch diese Grenzziehung erfuhr. Doch welch Wunder! Die Narben heilen! Filigrane Birken wachsen als schmaler neuer Wegesaum. Gras und Blumen überwuchern Beton.

Der Weg vom westlichen Dorfrand bis hin zur ehemaligen Grenze, diese symbolische Strecke durch vielfältige Natur, wurde zum "Grüner Junipfad", weil ihn Sarah Kirsch im Juni 1997 gegangen ist, als sie in den Teil Deutschlands gereist war, den sie vor Zeiten in dichterischem Wort "Ländchen" benannte. Geburtsort und Geburtshaus, die Pfarre, sind wieder in ihrem Blick- und Gedankenfeld.

Aber am liebsten fahre ich Eisenbahn / durch mein kleines wärmendes Land / in allen Jahreszeiten... / Die Fahrt wird schneller dem Rand meines Landes zu / ich komme dem Meer entgegen den Bergen oder / nur ritzendem Draht der durch den Wald zieht, dahinter / sprechen die Menschen wohl meine Sprache...

Heidelore Kneffel


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13. Juni 98

Ich folge dem grünen Junipfad. Der erste ist der grüne See. Dort unkt es gewaltig nach Liebe, und für jedes Paar blubbert aus der grünen Grütze eine Grasbatzeninsel, aber es riecht nicht nach Schwefel! Hier wird Jomfru Blidelil der Lilith gehörig was hutzeln. Der Weg ist dicht bewachsen. Wir laufen durch das hohe Grün bis zum zweiten See, dem Braunen. Großmütig schluckt er die rauschende Sethe und plätschert nicht enden wollend sanft ins sumpfige Land neben uns. So kommen wir an eine Weggabelung. "Das ist der Scheideweg, liebe Brüder. Wann ihr euch einmal trennt, so stoßt dieses Messer hier in einen Baum. Daran kann einer, wenn er zurückkommt, sehen, wie es seinem abwesenden Bruder ergangen ist. Denn die Seite, nach welcher dieser ausgezogen ist, rostet, wann er stirbt. Solange er aber lebt, bleibt sie blank." Dort liegt der rostige Draht zum Rad gewunden, und da oben fällt der dritte See in die schwarze Erde.

Lebendig blinzeln die kleinen Äuglein des Bauern unter seinem Kirschgartenhut. Er weist uns den Weg zum schauerlichen Ort. Über Stock und Stein gehts schnellen Fußes querwaldein. Wo lichte Buchen die Sonne durchs zarte Geäst schimmern lassen, dort, so sagt uns der Bauer, haben dereinst die Meiler gestanden, die für die naheliegende Glashütte die Holzkohle brannten. Manchmal findet man noch bunte Scherben. Wir sind da. Ein unheimliches Zeichen ragt windschief aus dem Waldboden auf. Der Sühnestein, ein Antoniterkreuz, heiligt den heidnischen Flecken, der noch immer schwanger scheint mit jenem stummen Schrei des Entsetzens der unbekannten Seele im Angesichte des mörderischen Frevels. Kein Gras wuchs über die Sache, nur Moos, weiches duftendes Moos. Hunderte Stämme gefällter Bäume säumen den Weg zum ehemaligen Grenzstreifen. Hier hatten majestätische Weißtannen bisher noch alle Zeit des Waldes, um so zu wachsen, wie des Schatzhausers Baum im dichten Tann. Das hat sich geändert. Die Zeit wird auch dem Walde knapp. Eine vermoderte Holzbrücke steht da, wie das ausgemergelte Knochengerüst einer zu groß geratenen Kinderbude, wie das vergessene Spielzeug des Holländer Michels. Eine leichte Biegung trägt uns in ein blaues Lupinienmeer. Wir laufen direkt auf den Grenzstein zu. Er besteht aus einer stahlarmierten Betonspur, hinter der sich der Todesstreifen erstreckt. Selbstschußanlagen und Minengürtel machten die Grenze hier unüberwindlich. Es ist sehr sonderbar auf diesem Grenzweg zu laufen, dessen Bedeutungswandel so einschneidende Konsequenzen für das Leben der Menschen auf beiden Seiten hatte und noch immer hat. Deutlich ist die Schneise erkennbar, denn noch immer mag hier nichts wachsen, weil man vordem auf die fruchtbare Erde eine Mixtur aus Diesel und dem hochtoxischen Selest ausbrachte, um Spuren genauestens verfolgen zu können. Die Walderdbeeren schmecken süß, bitter hingegen sind die maisgefüllten Flaschen, die hier alle hundert Meter in direkter Schußlinie der Hochstände ausgelegt sind. Welch gleichnishafte Ironie, daß man nun ausgerechnet an diesem Orte der Kreatur so heimtückisch in genau derselben Weise auflauert, wie das dereinst dem Menschen hier geschah. Durch das dichte Unterholz tauchen wir wieder in den Wald ein, laufen den grünen Junipfad zwischen Grenzstreifen und Scheideweg zurück. Hier singen die Vögel besonders schön. Weich federt der Tritt auf abschüssigem Weg vorbei am schwarzen Erdfallsee, der wildromantisch einem Kriminalstück entnommen scheint, vielleicht auch einer Gespenstergeschichte - wer weiß. Da liegt noch immer an der Böschung des Scheideweges der rostige Stacheldraht. "Da fiel ihm ein, er wolle einmal nach dem Messer sehn, das sie bei der Trennung in einen Baumstamm gestoßen hatten, um zu erfahren, wie es dem Bruder ginge."


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30. September 98

Der dichte Wolkenteppich reißt sekundenweise auf, so daß die Sonne tiefe Herbstfarben vorm dunklen Himmel wunderbar zum Leuchten bringt, grad so, als bäume sich die sterbende Natur in sommerlicher Erinnerung schwermütig ein letztes Mal gegen die unvermeidliche Winterstarre auf. Es ist die Luft vorm großen Regen - Herbst in Limlingerode. Grüne Eisberge limmeln sich, und man rodet den Wald. Dumpf höre ich die Sägen, und erschlagen liegt das Holz am Weg. Schwere Fahrzeuge hinterlassen tiefe Spuren, und das grüne Blut der Bäume regnet sich in den See der Jomfru Blidelil. Die ganze Liebe des Juni ist vorerst verhutzelt. Kein Wind regt sich. Der Reiher breitet seine Flügel aus. Es ist spät, das Dorf steht im Dunst, und bunt quellen die Blumen aus den Vorgärten. Der große Sommer fährt dahin.

Karin Kisker
Zitiert aus: "Limlingeröder Reihe", Heft 2